„Ich will lieber sterben, als nochmal in diese Schule zu gehen!“
Mein Herz steht einen Moment still, ich gehe auf die Knie und nehme meine 7-jährige Tochter in den Arm. Sie weint, zittert und drückt sich fest an mich. „Bitte schick mich da nicht wieder hin“, fleht sie mit schwindender Stimme. „Ok mein Schatz. Du musst dort nicht wieder hin“, sage ich und halte sie fest. Eine ganze Weile sitzen wir auf dem Boden im Flur. Schweigend und weinend. Das war mein Weckruf vor fast 6 Jahren. Mein Kind, der ehrlichste Mensch den ich kenne, willensstark, sensibel, mitfühlend, unbestechlich und unbezwingbar sitzt gebrochen auf meinem Schoß und denkt übers Sterben nach. Der schrecklichste Moment in meinem Mamasein und gleichzeitig der Wendepunkt in unserem Leben, dem ich so viel Gutes verdanke.
Bereits im Vorfeld gab es immer wieder Probleme in der Schule, sowohl bei meinem Sohn als auch bei meiner Tochter. Die meisten ließen sich gut durch Gespräche klären, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich ganz klar Missstände im Umgang einiger Lehrer mit meiner Tochter ansprach und dafür extreme Anschuldigungen seitens der Schule erhielt. Mehrere Lehrkräfte hatten sich zusammengeschlossen um meiner damals 7-jährigen Tochter zu zeigen wer das Sagen hat. Fast 6 Monate hat meine sonst sehr aufgeschlossene Tochter mir nichts über die schwerwiegenden Vorfälle in der Schule erzählt, aus Angst die Lehrkräfte würden mich genauso fertig machen wie sie. Als sie eines Abends weinend erzählte, was los ist, war ich entsetzt und wütend über das Verhalten erwachsener Menschen, welche unseren Kindern Sozialverhalten beibringen, Wissen vermitteln und sie schützen sollten. Stattdessen wurden andere Lehrkräfte und Mitschüler aufgefordert, einen jungen Menschen „in seine Schranken zu weisen“. Als wir das Gespräch suchten, wurde uns mitgeteilt, dass Kinder kleine Lügner sind und alles Gesagte nicht stimme. In folgenden Gesprächen wurden die Maßnahmen nicht mehr abgestritten, sondern als pädagogisch notwendig verteidigt. Das Mitschüler aufgefordert werden einen Menschen aus ihrem Klassenverband auszuschließen, zu beschämen und zu demütigen sei wichtig, „damit die Kinder nicht aus der Reihe tanzen“. Nach diesem letzten Gespräch ging meine Tochter noch 3 Tage zur Schule und jeden Tag wurde sie schlimmer geächtet. Am 3. Tag brach sie zusammen und sagte „Ich will lieber sterben, als nochmal in diese Schule zu gehen.“ Nach dieser Aussage meiner Tochter war für mich klar: Sie geht dort nicht mehr hin.
So sind wir am nächsten Tag zur Kinderärztin gegangen, haben die Situation geschildert und ich bat um eine Krankschreibung bis zu den Sommerferien (ca. 3 Monate). Die Kinderärztin war unsicher eine so lange Krankschreibung auszustellen, erklärte sich jedoch nach einem Telefonat mit der Kinderpsychologin, welche wir bereits zur Unterstützung aufgesucht hatten, einverstanden. Wir bekamen dann sofort einen Therapieplatz für meine Tochter, um die Geschehnisse aufarbeiten zu können. Diagnostiziert wurde eine schwere Angststörung. Meine sonst sehr selbstständige und angstfreie Tochter hatte Alpträume, konnte nachts nicht allein zur Toilette gehen, nicht allein einschlafen und wollte keine 5 Minuten mehr von mir getrennt sein. Zudem bekam sie extreme Neurodermitisschübe, ständige Übelkeit und Bauchschmerzen. Ich kündigte meine Anstellung um ganz für meine Kinder da zu sein.
Was mir bis dahin nicht richtig bewusst war: Auch mein Sohn, welcher 2 Jahre älter ist, litt extrem unter der Schule. Leider konnte er das nicht so kommunizieren, weshalb es für mich nicht erkennbar war. Bei ihm äußerte sich alles über psychosomatische Beschwerden wie Bauchschmerzen, Kopfschmerzen und Erbrechen, was von unserer Kinderärztin immer als „Da kann man nichts machen, er ruht sich einfach mal ein paar Tage aus“ abgetan wurde. Über den Sommer fanden wir eine neue Schule für meine Tochter, mein Sohn wechselte auf die Sekundarschule. Die ersten 2 Monate lief alles gut, plötzlich fing mein Sohn an alle 2 Tage zu erbrechen, körperlich war alles in Ordnung, anfangs schien es einfach ein Magen-Darm-Infekt zu sein, doch dieser sollte sich noch weitere 3 Monate hinziehen: Immer wenn er einen Tag in der Schule war, erbrach mein Sohn für ein bis zwei Wochen alle 2 Tage, bei meiner Tochter lief es gut: Sie war gut angekommen in der neuen Schule, hatte sich über den Sommer erholt und ihre Angstzustände besserten sich – für ganze 3,5 Monate: Plötzlich kamen Beschwerden der Lehrerin: Aussagen wie: „Die hat doch keine Angststörung, die hat einfach keinen Bock.“ In einem Elterngespräch erklärte ich nochmal, was die Kinderpsychologin mir gesagt hatte: Dass es Zeit braucht das Geschehene zu verarbeiten, dass es Fort- und Rückschritte geben wird und dass es viel Empathie und Verständnis braucht meine Tochter zu begleiten: Ich versuchte Lösungswege aufzuzeigen und bettelte fast um Verständnis – doch die Lehrerin war fest im Standpunkt „Das Kind muss sich ändern.“ Und am besten jetzt sofort: Nach dem Elterngespräch gab es auch an dieser Schule jeden Tag ein bisschen mehr Ärger für meine Tochter: Sie wurde krank, lag 2 Wochen mit Fieber im Bett und bekam Nachrichten von einer Mitschülerin, dass sie ja nur schwänzen würde, weil sie kein Bock hat: Als meine Tochter nach 3-wöchiger Krankheit wieder in der Schule war, gab es Streit mit dieser Mitschülerin, welche meine Tochter als „Schulschwänzerin“ betitelte: Meine Tochter wurde aggressiv und schrie sie an, dass sie sie einfach in Ruhe lassen soll: Die Lehrerin ging dazwischen sah meine Tochter an und sagte: „Wenn du so bist soll es dir hier genauso gehen wie auf deiner alten Schule.“ Meine Tochter berichtete mir zuhause von der Situation und sagte fest entschlossen: „Ich gehe da nicht mehr hin so lasse ich mich nicht behandeln.“ Die letzten 2 Tage vor den Weihnachtsferien ließ ich sie also zuhause: Ich durchforstete das Internet stieß auf eine Psychologin welche sich auf Schulverweigerung spezialisiert hatte: Ich schrieb sie an nach ein paar Tagen telefonierten wir das erste Mal – nach unserem 3-stündigen Gespräch hatte ich Hoffnung und war gefestigt darin mein Kind zu unterstützen."
Während der Weihnachtsferien verbrachte ich meine Zeit damit, meine Kinder zu bestärken für sich einzustehen und gleichzeitig einen rücksichtsvollen Umgang mit anderen zu etablieren. Meine Nerven lagen blank, ich war hin- und hergerissen zwischen der Angst vor Konsequenzen einer Schulverweigerung und dem tiefen Wunsch für die Gesundheit und Bedürfnisse meiner Kinder einzustehen. Ich schrieb E-Mails an die Schulen und bat um einen zeitnahen Gesprächstermin nach den Ferien. Diesen bekam ich auch. Der Lehrer meines Sohnes war sehr einfühlsam und mitfühlend. Eine Freistellung war kein Problem und es wurde gebeten ein Gespräch mit meinem Sohn (wenn von ihm gewünscht) in Anwesenheit der Eltern zu führen, wenn er sich erholt hat und bereit dazu ist. Auch dieses Gespräch lief gut. Mein Sohn durfte sich erholen und zur Schule kommen, wann immer es ging. Bereits nach einigen Wochen kommunizierte er, dass er auf eine andere Schule möchte. Wir hatten bereits vor dem Wechsel auf die weiterführende Schule einen Antrag gestellt ihn in diese andere Schule einschulen zu dürfen, mit der Begründung, dass er dort sehr viele soziale Kontakte hätte und dies für ihn wichtig ist, da für ihn schon immer neue Umgebungen schwierig waren und so die Umgewöhnung leichter fallen würde. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Nun ging es die nächsten Monate weiter mit Erbrechen. Wir stellten erneut den Antrag auf Umschulung, welcher nun doch genehmigt wurde. Nur leider zu spät, denn das ständige Erbrechen hatte sich quasi festgesetzt. Auch in der neuen Schule konnte mein Sohn nicht richtig ankommen. Im nächsten Schuljahr wurde es besser, zumindest eine gewisse Zeit. Dann fingen Mitschüler an „aus Spaß“ Gewalt auszuüben. Mein Sohn wurde innerhalb von 1,5 Schuljahren verprügelt, in den Oberbauch getreten (er hat Gallensteine), mit einem Schlüssel ins Gesicht geschlagen, gewürgt, geschubst und einiges anderes. Immer öfter war er krank zuhause. Gespräche mit der Schule über den Schutz vor körperlichen und verbalen Übergriffen verliefen im Sande, denn „die Schule könne nicht garantieren, dass ihr Sohn keine Gewalt erfährt“ und „Wir haben leider nicht die Kapazitäten die Schüler ständig zu überwachen.“ Nachdem meinem Sohn der Zeh zertreten wurde, habe ich ihm gesagt, dass er da nicht mehr hinmuss und ich ihn nicht mehr überreden werde, es nochmal zu versuchen.
Die Gespräche mit der Schule meiner Tochter verliefen genau gegenteilig. Uns wurde erklärt, dass unsere Tochter, eine 8-jährige, die Ursache allen Übels ist. Der Bericht der Kinderpsychologin wurde als Unfug abgetan und wir wurden über mögliche Konsequenzen eines Fernbleibens der Schule eingehend informiert. Über 3 Monate führte ich 3-5 Gespräche die Woche mit Schulen, Schulamt, Sozialarbeiterin, Kinderärztin, Kinderpsychologin, meinem Therapeuten und meiner Psychologin die auf Schulverweigerung spezialisiert ist. Später kamen noch Gespräche mit meinem Anwalt und dem Jugendamt hinzu. Alles in allem war dies die schwerste Zeit meines Lebens und gleichzeitig habe ich unglaublich viel gelernt.
Als sich der Wirbel ein wenig gelegt hatte, machte ich mich zum 01.05.2019 selbstständig, denn zu allem Übel saß mir noch das Arbeitsamt im Nacken und wollte, dass ich eine neue Anstellung finde. Bei einem Gespräch mit meiner Sachbearbeiterin stellte sich heraus, dass mir kein Arbeitslosengeld zusteht, wenn ich keine Betreuung für meine Kinder nachweisen kann (wobei eine Betreuung durch Familienmitglieder nicht ausreichend ist). Anspruch auf einen Homeofficearbeitsplatz gab es nicht.
Ich beschloss mich selbstständig zu machen, was innerhalb kürzester Zeit umgesetzt war. 18 Tage später erfuhr ich, dass ich schwanger bin und 3 Tage danach, eröffnete mir das Jugendamt, dass eine umfassende Kindeswohlgefährdungsprüfung veranlasst wird.
Jackpot! würde ich sagen oder auch „Ich bin am Arsch“.
Fix und fertig führte ich Telefonate mit meinem Anwalt und meiner Psychologin, welche mich auf verschiedene Arten wieder zurück zu mir holten. Diese Zuversicht, Empathie und Aufrichtigkeit hinterließen ein Gefühl von Schutz und aufgefangen werden, womit ich wieder etwas klarer denken konnte. Während der ganzen Gesprächstermine mit den Behörden, welche mir alle erzählten wie wichtig es ist, die Kinder zu bestrafen, ihnen alles wegzunehmen und ihnen das Leben schwer zu machen, damit sie wieder gern zur Schule gehen, war ich unglaublich dankbar für die Gespräche mit den 3 Therapeuten, die uns begleiteten, welche alle der Ansicht waren, dass ein solches Verhalten nicht tragbar für das Wohlergehen meiner Kinder wäre!
Andere Menschen können dir nicht den Weg ersparen, sie können dich auch nicht schützen, aber sie können dir ein Gefühl von Sicherheit geben, dich bestärken, auffangen und zuhören.
Die Kindeswohlgefährdungsprüfung ergab nichts! „Es gibt keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung ihrer Kinder. Dennoch werden wir Schritte einleiten, die Kinder aus ihrem Haushalt zu holen, wenn diese nicht die Schulpflicht erfüllen. Unter Einsatz von Medikamenten wäre dies schnell und unkompliziert möglich.“ war die Aussage der Jugendamtsmitarbeiterin.
Natürlich habe ich in der ganzen Zeit weitere Schritte unternommen, eine geeignete Lernumgebung für meine Kinder zu finden. Habe Schulen kontaktiert, besichtigt und Gespräche geführt. Zudem haben sich meine Kinder zuhause gebildet, sich selbstständig Wissen angeeignet und hatten soziale Kontakte. Zum Ende der Sommerferien fanden wir eine neue Schule für meine Tochter und auch mein Sohn hatte sich soweit erholt, dass er wieder die Schule besuchen wollte. Wir fanden eine wundervolle neue Kinderpsychologin und haben nie wieder etwas vom Jugendamt gehört.
Dann kam Corona und die Schulpflicht wurde zum Teil aufgehoben, was meine Kinder gern nutzten und zuhause ihre Aufgaben erledigten. Hin und wieder gingen sie zur Schule. Durch Zufall fanden wir das Projekt „Comeback“, welches junge Menschen mit schweren Schulerlebnissen unterstützt wieder Freude am Lernen und an sozialen Umgängen zu finden. Mein Sohn gefiel es dort auf Anhieb und er blieb bis zum Ende seiner Regelschulpflicht. Meine Tochter wechselte noch 3-mal die Schule und ging zwischenzeitlich ebenfalls zu „Comeback“. Für sie war es nicht das Richtige. Seit letztem August besucht sie freiwillig die 6. Schule und ist zum Großteil sehr zufrieden. Noch bis zum Sommer litt sie an schweren Depressionen und evtl. einer posttraumatischen Belastungsstörung (Vordiagnose einer Tagesklinik) kurz vor den Sommerferien beschloss sie im nächsten Schuljahr ihre Ängste zu überwinden und wieder zur Schule zu gehen. Bis zu dieser Entscheidung gab es tausend kleine Schritte, welche ihr geholfen haben wieder ein gesundes Selbstwertgefühl und positiveres Selbstbild aufzubauen. Heute ist von den letzten 6 Jahren kaum noch etwas zu erkennen. Sie geht zur Schule, nimmt sich Auszeiten, wenn nötig, hat Freunde und kann selbst mit Stresssituationen und „strengen“ Lehrkräften umgehen. Ja sie ist ein Teenie mit Stimmungsschwankungen und ganz ehrlich, so anstrengend das manchmal ist, ich bin froh drüber und stolz, mein starkes, empathisches und sensibles Mädchen zurück zu haben. Mein Sohn ist im Berufsvorbereitungsjahr und macht seinen Hauptschulabschluss. Im nächsten Schuljahr möchte er – trotz, dass für ihn die Schulpflicht beendet ist – seinen Realschulabschluss machen. Er hat keine psychosomatischen Beschwerden mehr, pflegt soziale Kontakte, ist ein sehr selbstständiger junger Mann und steht für sich ein.
Ein langer, harter Weg, der sich gelohnt hat! Für das Wohl junger Menschen!